25 Jahre an der RWTH: Verabschiedung von Prof. Roth

 

Prof. Roth und die Legende des "Fluchschweins"

Prof. Roth Urheberrecht: © Kristallographie

Nach einem Vierteljahrhundert an der RWTH sind Sie zum 1.8.2020 in den Ruhesstand eingetreten. Wenn Sie auf diese 25 Jahre in Aachen zurückblicken, was waren Ihre persönlichen High- und Lowlights?

Um die Beantwortung dieser Frage kann ich mich - halb-elegant - herumdrücken, denn es sind eben nur FAST 25 Jahre zustande gekommen. Und das kam so: Eigentlich sollte ich zum SoSe 1995 die Nachfolge des Kollegen Woermann im Lehr- und Forschungsgebiet „Angewandte Kristallographie und Mineralogie“ antreten - zumindest war das der Plan. Bis dann jemandem in der Verwaltung auffiel, dass das Land NRW ja mal wieder eine Haushaltssperre, verbunden mit einer Stellen-Besetzungssperre, verhängt hatte - das gehörte damals zur „NRW-Folklore“. So habe ich mich dann im SoSe vorgezogen selbst vertreten und bin offiziell erst zum WiSe 1995/96 in die Dienste der RWTH eingetreten. Was mich dann - FAST 25 Jahre später - um die silberne Uhr als Jubiläumsgeschenk gebracht hat. Nachdem ich dem Rektor im Verabschiedungsgespräch diesbezüglich mein Leid geklagt hatte, meinte er mich damit trösten zu müssen, dass es an der RWTH ohnehin keine silberne Uhr gebe, sondern einen, für Bedienstete in der C- oder W-Besoldung, eher vernachlässigbaren Geldbetrag.

Die schlechte Angewohnheit mit den Vertretungen habe ich dann später halbfreiwillig wiederaufgenommen: Insgesamt habe ich ja 11 Jahre lang den Lehrstuhl für Kristallographie vertreten – allerdings ohne offizielle Ernennung oder zusätzliche Bezahlung. Ich überlasse es Ihnen, dies jetzt wahlweise in die Schubladen „Highlight“ oder „Lowlight“ einzuordnen.

Nach Abschluss Ihres Mineralogie-Diploms an der Universität Münster im Jahre 1980 folgte dort 1985 die Promotion und 1993 die Habilitation an der Universität Marburg. Welche Gründe haben Sie damals dazu bewogen, einen wissenschaftlichen Karrierepfad zu beschreiten und würden Sie es heute wieder tun?

Hm! Ich glaube die blanke Neugier! Aber vielleicht sollten wir zunächst mal die Begriffe „wissenschaftlicher Karrierepfad“ und „Hochschulkarriere“ auseinanderhalten: Ich war damals Wissenschaftler auf einer Dauerstelle am Kernforschungszentrum Karlsruhe (danach Forschungszentrum Karlsruhe, „Kern“ wurde irgendwann mal „igitt“, heute heißt es KIT) und hatte dort sehr viele Freiheiten und deutlich mehr Ressourcen (apparativ, finanziell und vor allem zeitlich) für die Forschung als zu Beginn an der Hochschule. Die Habilitation habe ich gemacht, weil ich schon über längere Zeit Vorlesungen zur Neutronenstreuung in Marburg gehalten hatte und die offizielle Verleihung der Lehrbefugnis da irgendwie der nächste logische Schritt war – ehrlich gesagt ohne konkrete Karrierepläne.

Die Antwort auf Ihre Frage in Kurzform: Wissenschaftliche Karriere: Ja! Jederzeit wieder! Akademische Karriere als Hochschullehrer: Weiß nicht! Muss nicht! Das Problem ist nur, dass es, so wie unser Wissenschaftssystem heute gestrickt ist, kaum noch Dauerstellen für Wissenschaftler außerhalb der „Professorenschiene“ gibt und die jungen Leute daher gar keine Wahl haben.

Nach dem Ausscheiden von Prof. Heger wurde das Institut für Kristallographie 2009 von zwei auf eine Professur geschrumpft. Ein Phänomen, dass nicht nur in Aachen zu beobachten ist. Wie sehen Sie die zukünftigen Perspektiven der Kristallographie als sog. "kleines Fach"?

Ja: Zu den „kleinen Fächern“ gibt es eine Forschungsstelle, die sich mit der Situation kleiner, aber (zumindest in der Eigenwahrnehmung) leistungsfähiger Fächer beschäftigt und die auch statistische Zahlen zur Entwicklung von kleinen Fächern erhebt. Die Kristallographie - wie auch die Mineralogie und die Paläontologie – waren (und sind) dort über viele Jahre Deutschlandweit „in Führung“, was den Abbau von Professuren und die Schließung von Instituten angeht – in guter Gesellschaft mit Fächern wie „Indogermanistik“ und „Geschichte der Medizin“. Ich habe, dem damaligen Leiter dieser Forschungsstelle gegenüber, diese Statistik mal als „akademisches Sterbekataster“ bezeichnet – das fand er gar nicht lustig und er hat - nicht ganz ohne Berechtigung - gemeint, für den Erhalt der kleinen Fächer stünden schon die Bundesländer und die Universitäten in der Verantwortung und nicht die Forschungsstelle „kleine Fächer“. Immerhin ist die Kristallographie in Aachen – anders als an den allermeisten anderen Standorten in Deutschland – nicht auf null geschrumpft. Dass das in Aachen geklappt hat und dass die Kristallographie nach 11 Jahren wieder durch einen Lehrstuhl vertreten ist, haben wir ganz wesentlich der Unterstützung durch die Aachener KollegInnen in den Geowissenschaften zu verdanken!

  Prof. Roth Urheberrecht: © MLZ Garching

Als PostDoc waren Sie Mitte der 1980er Jahre auch am Department of Materials Sciences an der Stanford University in den USA tätig. Für wie wichtig erachten Sie die internationalen Vernetzungen in der Kristallographie? Was würden Sie Studierenden und Promovierenden in dieser Hinsicht empfehlen, die eine wissenschaftliche Karriere anstreben?

Zunächst einmal: Je kleiner das Fach desto wichtiger die internationale Vernetzung – ich glaub‘ das ist trivial. Und: Den jungen Leuten braucht man heutzutage die Bedeutung von Auslandserfahrung für eine wissenschaftliche Karriere nicht mehr zu erklären, das ist heute viel selbstverständlicher als „zu meiner Zeit“. Ein Post-Doc-Aufenthalt in Stanford ist heutzutage kaum noch ein Alleinstellungsmerkmal, aber ein längerer und produktiver Post-Doc-Aufenthalt im Ausland ist nach wie vor sehr förderlich - um nicht zu sagen erforderlich - für eine akademische Karriere.

Die Kristallographie ist stark im RWTH-Profilbereich „Materials Science and Engineering“ (MatSe) sowie im Forschungszentrum Jülich engagiert. Welche zukünftigen „Emerging Fields“ sehen Sie im Bereich der Forschung in der Kristallographie?

Mit der Antwort auf diese Frage könnte ich sehr viele Seiten vollschreiben – das können Sie nicht ernsthaft wollen! Ich versuche mal es knapp zu halten, worin ich allerdings eindeutig nicht besonders gut bin:

Die Kristallographie ist eine Facette der Festkörper- und Materialforschung – wir Kristallographen sind natürlich davon überzeugt: Eine wichtige Facette! Oft treten aber diejenigen, die mit kristallographischen Methoden wissenschaftliche Fragestellungen bearbeiten, gar nicht primär als Kristallographen in Erscheinung und das ist sicher ein Teil des Problems, wenn es um die Sichtbarkeit und die Zukunft der Kristallographie geht. Ihre Frage müsste man also erweitern zu der Frage: Welche spannenden Zukunftsthemen gibt es in den kristallographisch arbeitenden Festkörperwissenschaften insgesamt, und die reichen immerhin von den Material- und Geowissenschaften über die Festkörper-Chemie und -Physik bis hin zur Biologie und Medizin (Stichwort Protein-Kristallographie). Da ist mir überhaupt nicht bange, dass uns die spannenden Fragestellungen ausgehen könnten. Ich habe übrigens die Erstsemester-Studierenden der Materialwissenschaft in der Ringvorlesung (die es in den Geowissenschaften leider in dieser Form nicht gibt) immer gern „gequält“ mit zahlreichen Beispielen für Nobelpreise, die in direktem Zusammenhang mit der Kristallographie standen - natürlich um mit der Interdisziplinarität unseres Faches „anzugeben“.

Die Kristallographie steht aber auch ganz prominent für die Methodenentwicklung und hier sagen manche Leute, dass wir Kristallographen Opfer unseres eigenen Erfolgs sind: Wir haben unsere Methoden – besonders in der Strukturforschung mittels Röntgenbeugungsmethoden – soweit verfeinert und gleichzeitig vereinfacht, dass die zugehörigen Programme jetzt (pardon) „von jedem Depp“ bedient werden können. Ich verkneife es mir besser, den Begriff „Depp“ in diesem Zusammenhang genauer zu spezifizieren – sonst fühlt sich noch jemand angesprochen!

Aber für die Methodenentwicklung in der Kristallographie - jenseits der Röntgenbeugung im Labor - gibt es noch jede Menge spannender Aufgaben. Dazu zählt für mich insbesondere auch die Entwicklung von Methoden und Geräten der Strukturforschung an Großforschungseinrichtungen: Der Steuerzahler finanziert ganz aktuell mit Milliardenbeträgen modernste Forschungsinfrastruktur wie Synchrotronquellen (z. B. Petra III in Hamburg), Neutronenquellen (derzeit befindet sich die neue europäische Neutronen-Spallationsquelle ESS in Lund, Schweden im Aufbau) und Röntgen-Laser (XFEL in Hamburg, ebenfalls ganz neu). Wenn wir keine jungen Leute ausbilden, die diese Methoden verstehen und nutzbringend anwenden können, helfen uns all die Milliarden für die „Hardware“ gar nichts. In der Forschung mit Großgeräten spielt meiner Meinung nach auch in Zukunft die (kristallographische) Musik und wir haben dieses Geschäft in der Aachener Kristallographie ja im Bereich der Neutronenstreuung - im Rahmen unserer Möglichkeiten - durchaus mit Erfolg betrieben.

  Fluchschwein Urheberrecht: © Lars Peters

Unter Federführung der Kristallographie entstand der überfakultativ konzipierte Studiengang Materialwissenschaften. Welche Ideen steckten denn hier dahinter und würden Sie den Studiengang als Erfolg bewerten? Vor welchen Herausforderungen steht die kristallographische Ausbildung am Standort Aachen in den nächsten Jahren?

Der Kredit für die Einrichtung des Studiengangs Materialwissenschaft gebührt natürlich Herrn Heger, der es damals gemeinsam mit ein paar anderen Kollegen geschafft hat, vier Fakultäten unter einen Hut zu bekommen. Aufgrund der speziellen Situation in Aachen war es damals aber nicht konsensfähig, ein Institut oder gar eine Fakultät für Materialforschung neu zu gründen – dazu gab und gibt es zu viele Institutionen an der RWTH, die mit vollem Recht reklamieren konnten (und können), ebenfalls Materialwissenschaft zu betreiben. Organisatorisch ist dieser „freischwebend an vier Punkten aufgehängte“ Studiengang natürlich eine Herausforderung! Der Studiengang hat übrigens als „Alleinstellungsmerkmal“ im Bachelor eine (zum Schrecken vieler Studienanfänger) sehr klare Ausrichtung auf ein breites Wissen in den Grundlagenfächern - auch und gerade in Abgrenzung zum Werkstoff- und Wirtschafts-Ingenieurwesen. Im Master profitiert er dann von dem überreichen Angebot an materialbezogenen Fragestellungen an der RWTH und auch dem Forschungszentrum Jülich. Die üblichen Spötter sagen, der Studiengang habe ebenso viele Vertiefungsrichtungen wie Masterstudierende.

Für die Zukunft der kristallographischen Lehre gilt ähnliches wie für die kristallographische Forschung: Die Kristallographie ist ein Bindeglied zwischen den Disziplinen und liefert in der Lehre wichtige Grundlagen für andere Fächer. Dies wird von den „Kunden“ auch durchaus wertgeschätzt. Natürlich wäre es ungesund, wenn das Fach sich ausschließlich in Lehrdienstleistungen „erschöpfen“ würde. Auf die Notwendigkeit junge Leute auszubilden, die z. B. kompetent mit der modernen Großgeräte-Forschungs-Infrastruktur umgehen können, hatte ich ja schon hingewiesen. Dies wäre dann - wie bisher schon - ein Beispiel für die Ausrichtung von „eigenen“ Studierenden in der Kristallographie. Die Herausforderung für die kristallographische Ausbildung ist und bleibt in meinen Augen genau diese Multi-Disziplinarität: Die Kristallographie ist in jeder der festkörperwissenschaftlichen Disziplinen „randständig“, gleichzeitig hat sie nicht die notwendige Größe und Bedeutung um völlig eigenständig als Studiengang existieren zu können. Ob und wie man diese Situation ändern kann, damit die Kristallographie sichtbarer wird und nicht doch noch im Orkus der „kleinen Fächer“ verschwindet, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Vielleicht ist das eine der Aufgaben für „die nächste Generation“?

Was sind Ihre Pläne für den Ruhestand? Die Aachener Kristallographen*innen scheinen ihrem Fachbereich besonders verbunden zu sein. Bleiben Sie der Kristallographie in dieser Tradition auch nach Ihrem Übergang in den Ruhestand erhalten?

Ja! Das könnte stimmen: Vermutlich sind die „schlechten Loslasser“ in der Mehrheit, aber das gilt doch genauso auch für sehr viele Kolleg*Innen aus anderen Fächern. Derzeit gibt es für mich selbst ganz konkret noch eine Reihe von Abschluss- und Doktorarbeiten, die betreut werden wollen – die Verpflichtungen laufen also nur langsam aus und das finde ich ganz angenehm. Ehrlich gesagt lege ich aber keinen gesteigerten Wert darauf, eines Tages mit den Füßen voran aus meinem Büro getragen zu werden.

Jenseits der Pflicht: Eigentlich stand ja ausgiebiges Reisen - ohne dienstliche Ausreden und ohne damit verbundenen Zeitdruck - ganz oben auf der ToDo-Liste. Das ist in diesen Zeiten natürlich keine valide Option und „Reisen“ ist deshalb auf der Liste der Dinge, die ich unbedingt im Ruhestand noch tun will (und vermutlich überwiegend niemals machen werde) im Moment deutlich nach unten gerutscht. Die weitere Diskussion der Liste erspare ich uns.

Im Institut für Kristallographie gibt es ein sogenanntes „Fluchschwein“. Könnten Sie uns bitte erzählen, was es damit auf sich hat? Wird das „Fluchschwein“ mit Ihnen in den Ruhestand eintreten?

Oh! Ja: Das Fluchschwein! Das steht für einen meiner zahlreichen verfehlten Erziehungsversuche: Irgendwann hat es mich so sehr genervt, dass regelmäßig Mitarbeitende in mein Büro kamen und aufs Übelste über die Blödheiten der Welt im Allgemeinen und der Hochschule im Besonderen geschimpft haben, dass ich angekündigt habe: „Beim nächsten Mal kostet dieses Wort nen Euro.“ Irgendwann stand dann ein kleines schwarzes Keramik-Schwein auf meinem Schreibtisch mit der Aufschrift: Schwarzgeld. Inzwischen ist das Schwein geschätzt 40 cm lang, 30 cm hoch und SEHR dick. Und Dank des - trotz des Fluchschweins - leider ganz und gar nicht unterbundenen Schimpfens und Fluchens (siehe oben… verfehlte Erziehungsversuche) hat sich daraus eine veritable Einnahmequelle (unsere „Viertmittel“) entwickelt: Es kommt in der Regel genügend Geld zusammen, um wesentliche Teile unseres jährlichen Institutsausflugs aus „Viertmitteln“ zu finanzieren. Beiläufig bemerkt: Die Liste der verbotenen Ausdrücke ist dynamisch und existiert nur im Kopf des obersten Schweinehirten – das ist zwar erz-autoritär, hat sich aber als (ökonomisch) sehr nützlich herausgestellt. Dasselbe gilt auch für die Aufnahme von RWTH-spezifischen Begriffen in die „Liste der verbotenen Wörter“, wie z. B. „Campus“, „Carpe Diem“, „SARA“, „RWTH-online“ u.s.w.

Das Fluchschwein (inklusive Inhalt) habe ich natürlich an meinem letzten Diensttag (es war ein Freitag) - ordnungsgemäß und zu treuen Händen - an den Professurvertreter Lars Peters übergeben - für den Ruhestand ist es einfach noch zu jung. Das Schwein trägt sogar - hygienisch korrekt - eine Mund-Nase-Bedeckung. Selbiger Professurvertreter soll es allerdings – so sagen es Gerüchte – in einen Schrank in seinem Büro gesperrt haben. Deshalb mache ich mir zunehmend Sorgen um eine ausreichende Ernährung des armen Schweins. Meine ganze Hoffnung liegt jetzt auf „dem Nachfolgenden“.

Weitere Informationen zu Prof. Roth: https://www.ifk.rwth-aachen.de/go/id/jezuj